Der Dokumentarfilm „Pre-Crime“ schwelgt in nächtlich funkelnden Stadtlandschaften, in Draufsichten wie von Drohnen und Bildern wie aus Computerspielen, wo ein Ziel automatisch auf seinem Weg verfolgt wird.
Es sind Bilder aus Kriminalitätsschwerpunkten wie Chicago und Überwachungsmetropolen wie London, und man denkt: Von Deutschland sind diese Szenarien doch weit entfernt.
Und dann fällt einem der Juli in Hamburg ein, der G-20-Gipfel, bei dem 32 Journalisten ihre Akkreditierung entzogen bekamen, wegen „Sicherheitsbedenken“. Die „Bedenken“ entsprangen polizeilichen oder nachrichtendienstlichen Dateien. Was sich bei vieren als nachweislich falsch herausstellte, bei den 28 anderen mauern die Behörden.
Das schlagendste Beispiel für die Anwendung von „Pre-Crime“ kam zu spät für diese Kinodokumentation, demonstriert aber perfekt das System: Es werden nicht nur verurteilte Straftäter gespeichert, sondern zusätzlich Menschen, die – auf welche Art auch immer – mit Straftaten in Berührung kamen, und sei es als Opfer.
Die Theorie, auf der die Algorithmen beruhen, mit denen man Verbrechen vorauszusagen versucht, lautet: Wer ein Verbrechen beging, könnte ein zweites begehen. Und: Wer einmal Opfer eines Verbrechens wurde, wird mit erhöhter Wahrscheinlichkeit wieder ein Opfer. Und die Menschen im Umfeld auch.
Daraus lassen sich gefährdete Gebiete berechnen. Damit will man aber auch Individuen identifizieren, die vielleicht noch nie eine Straftat begangen haben, aber aufgrund ihres Umfelds möglicherweise eine begehen könnten. Die Polizei von Chicago hat damit eine „Heat List“ von 400 Personen (die meisten dunkelhäutig) erstellt, die sie für hochgradig verbrechensfähig hält.
Das führt dazu, dass es in „Pre-Crime“ an der Tür eines jungen Schwarzen klopft. Draußen stehen zwei Beamte, sie eröffnen ihm, er stehe auf der Heat-Liste und werde von nun an genau beobachtet. In London wiederum erhalten bestimmte Einwohner (meist dunkelhäutig) ein Anschreiben der Polizei, das ihnen ihre Überwachung bescheinigt: „Sie müssen Ihren Lebensstil ändern.“
Es ist, als habe Hollywood das reale Leben übernommen. Vor anderthalb Jahrzehnten schilderte Steven Spielbergs „Minority Report“ eine Zukunftsgesellschaft – im Jahr 2054 –, in der die Abteilung Precrime der Washingtoner Polizei Morde vorauszusagen versucht.
Sie bedient sich dazu dreier Menschen mit hellseherischen Fähigkeiten, und aufgrund dieser Visionen werden die „Mörder“ verhaftet und ohne Prozess eingesperrt, eine präventive Sicherheitsverwahrung sozusagen.
Wie zuverlässig sind eigentlich die Daten?
Das Konzept von Sehern ist für unsere versicherheitlichte Gesellschaft dann doch zu melodramatisch, und so werden sie durch Algorithmen ersetzt. Es sind mathematische Modelle, die Wesentliches außer Acht lassen, vor allem soziale Ursachen und Dynamiken von Verbrechen.
Matthias Heeders und Monika Hielschers Dokumentation macht keinen Hehl aus ihrer Skepsis und stellt kritische Fragen, auch die nach der Zuverlässigkeit der verwendeten Daten.
Bei einem der G-20-„Gefährder“ lag eine Personenverwechslung vor, bei einem anderen wurde ein Freispruch nicht vermerkt, bei einem dritten Daten zu Unrecht nicht gelöscht. Und das bei Dateien, bei deren amtlichen Erstellern – hier wenden wir die Unschuldsvermutung einmal an – doch Sorgfalt waltet.
Die Behörden in Amerika kaufen ihre Daten hingegen von kommerziellen Anbietern, vielleicht von Facebook, Google oder Twitter. Und wer einmal aus Versehen Mitglied im Heat-List-Klub wurde, kann kaum austreten. Selbst wenn man unwahrscheinlicherweise von seiner Mitgliedschaft erfährt.