Vitaminpillen, die Lungenkrebs fördern können – Seite 1

Martin Smollich ist Pharmazeut und Professor am Institut für Ernährungsmedizin des Uniklinikums Schleswig-Holstein. Er leitet die Arbeitsgruppe Pharmakonutrition und bloggt nebenbei auf ernaehrungsmedizin.blog. Dieser Artikel ist die gekürzte und editierte Version einer seiner Blogbeiträge.

Vitaminpräparate sind beliebt. Hersteller, die die Mikronährstoffe verkaufen, werben gerne mit angeblich positiven Effekten. "Kaum ein anderes Vitamin hat einen so starken Einfluss auf dein Wohlbefinden und deine körperliche Leistungsfähigkeit wie Vitamin B12", heißt es beispielsweise auf dem Gesundheitsportal Foodspring. Von Nebenwirkungen ist auf solchen Seiten meist wenig zu lesen.

Martin Smollich ist Pharmazeut und leitet am Uniklinikum Schleswig-Holstein die Arbeitsgruppe Pharmakonutrition. Seit 2016 ist er außerdem außerordentliches Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. © M. Smollich

Denn für die Sicherheit von Nahrungsergänzungsmitteln mit Vitaminen galt lange: Von den fettlöslichen Vitaminen A, D, E und K sollte man nicht zu viel nehmen. Denn sie können sich im Körper anreichern und dann der Gesundheit schaden. Bei den wasserlöslichen Vitaminen, also Vitamin C und den B-Vitaminen, hingegen galt die Hypothese: Was zu viel ist, wird einfach wieder über den Urin ausgeschieden, ein Schaden sei deshalb nicht zu erwarten. Leider ist es ganz so einfach wohl nicht.

Schon länger gibt es Hinweise, dass man auch B-Vitamine überdosieren kann (The Journal of Nutrition: Giovannucci et al., 2002; International Journal of Cancer: Sanjoaquin et al. 2005). Studien legten nahe, dass Menschen, die B-Vitamine schlucken – ob B6, B9 oder B12 – ein höheres Risiko haben, Lungenkrebs zu bekommen (Jama: Ebbing et al. 2009; Journal of Clinical Oncology: Brasky et al. 2017). Das gilt vor allem für Raucherinnern und Raucher. 

Weitere Indizien liefert nun eine geschickt durchgeführte Studie (International Journal of Cancer: Fanidi et al. 2018). Sie nutzte die Daten aus mehr als 20 Einzelstudien und untersuchte, ob bestimmte Mengen Vitamin B12 im Blut mit dem Lungenkrebsrisiko in Verbindung stehen und welche Rolle die Gene dabei spielen. Und tatsächlich zeigte die Auswertung: Je höher der Vitamin-B12-Spiegel, desto höher das Lungenkrebsrisiko. Und auch in der genetischen Analyse zeigte sich: Manche Genvariante erhöht den B12-Spiegel im Blut. Und Menschen, die diese Genvarianten tragen, haben auch häufiger Lungenkrebs. Die gesamte Untersuchung ist ein Glücksfall für die Ernährungsmedizin und bestätigt aufgrund der konsistenten, sich methodisch ergänzenden Daten, dass die Menge an Vitamin B12 im Blut und Lungenkrebs vermutlich kausal zusammenhängen. Außerdem schließt sie mit den Genanalysen aus, dass alles genau anders herum ist: Lungenkrebs führt eben nicht zu erhöhten Vitamin-B12-Spiegeln.

Auch die Gene zeigen: B12-Präparate können das Krebsrisiko erhöhen

Manche könnte das nun verunsichern. Deshalb ist es wichtig zu betonen: Damit sich das Krebsrisiko wirklich stark erhöht, muss man vermutlich sehr große Mengen B12 schlucken. Bei Menschen, die Vitamin-B12-Präparate einnahmen, verdoppelte sich das Lungenkrebsrisiko erst, wenn die Tagesdosis bei mehr als 55 Mikrogramm (Journal of Clinical Oncology: Brasky et al. 2017) lag (bei Raucherinnen und Rauchern verdrei- oder vervierfachte sich das Risiko bei dieser Menge). Zum Vergleich: Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt Erwachsenen und Jugendlichen pro Tag vier Mikrogramm davon über die Nahrung zu sich nehmen. Und das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) schlägt als Höchstmenge für B12-Präparate 25 Mikrogramm vor (Journal of Consumer Protection and Safety: Weißenborn et al., 2018).

Wirklich beruhigend ist das aber auch nicht. Denn im Handel gibt es zahlreiche Vitamin-B-12-Präparate, die Tagesdosierungen von bis zu 1.000 Mikrogramm enthalten. Diese Produkte sprechen vor allem auch Veganerinnen und Veganer an, die das Vitamin eben nicht mit tierischen Lebensmitteln zu sich nehmen. Außerdem ist trotz der Empfehlungen des BfR unklar, was eine noch unbedenkliche Dosisobergrenze für Vitamin B12 ist. Und auch der Mechanismus, über den das Krebsrisiko ansteigen könnte, ist weitgehend ungeklärt. Möglicherweise führt ein Überschuss an B-Vitaminen, die übrigens so wichtig sind, da sie DNA aufbauen und reparieren, zu epigenetischen Veränderungen. Oder eine große Menge sorgt dafür, dass Tumore oder ihre Vorstufen besonders viel Nährstoffe für ihr Wachstum erhalten (Clinical Epigenetics: Kok et al., 2015, Gut: Kim, 2006).

Die Schlussfolgerungen aus der aktuellen Studie sind hingegen recht eindeutig: Bei diagnostiziertem Vitamin-B12-Mangel ist es unbedenklich, über einen gewissen Zeitraum hohe Dosen des Vitamins zu nehmen – bis der Mangel ausgeglichen ist. Auch Menschen, die ein erhöhtes Risiko für einen Vitamin-B-12-Mangel haben, zum Beispiel Veganerinnen, ältere Menschen oder Patienten mit Magen- und Darmerkrankungen, müssen sich wohl keine Sorgen machen. Besonders dann nicht, wenn sie dauerhaft Präparate nehmen, die weniger als 25 Mikrogramm pro Tag enthalten. Einfach so und vor allem langfristig und hochdosiert sollte man Vitamin B12 aber auf keinen Fall nehmen. Denn das erhöht nicht das Wohlbefinden, sondern möglicherweise das Krebsrisiko.

Dieser Text wurde von Jakob Simmank editiert und gekürzt.